Bis zur Kenntlichkeit verfremdet
Portraits als Anlaß für Malerei
I. Vor der Malerei

Der Maler Mahsberg malt Gesichter von konkreten, identifizierbaren Personen: Portraits. Berühmte Köpfe sind zu sehen:
von Carl Friedrich von Weizsäcker, Thomas Mann, Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lovis Corinth... Doch das Repertoire ist schier unerschöpflich. Kunst- und Kulturschaffende aus vielen Jahrhunderten finden sich darin: ein enzyklopädischer, ein
lexikalischer Fundus.
Die Portraits sind Ausgangspunkt. Der Fundus, den sie bilden, ist der allen zugängliche Bildspeicher einer kulturellen Tradition. Durchblättert man Lexika, Kulturgeschichten und
historische Bildbände, so entfaltet sich ein Bilderbogen: Ikonen des Kulturschaffens. Und der Betrachter mag sich einer fatalen Illusion hingeben: Das eingeprägte Portrait schon verheißt eine Nähe zum Schaffen des Portraitierten. Wir "kennen" Goethe bereits, wenn wir sein Bild von Joseph Karl Stieler wiedererkennen. Auch bei Beethoven hat die mannigfache Reproduktion von Stielers Gemälde eine Legende vom Antlitz des genialen Künstlers heraufbeschworen: Vera Icon. Eine Vertrautheit blickt uns an oder an uns vorbei, mit der wir uns trefflich identifizieren können: Wir kommen der Kultur sehr nahe. Die einzelne Persönlichkeit wird in ihrer Abwesenheit im Portrait anwesend, in ihrer Unverwechselbarkeit unverkennbar. Das fasziniert.
Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, als der Geniebegriff das schöpferische Individuum beschwor, war die Physiognomie Anlaß für zum Teil verstiegene Reflexionen über den Zusammenhang zwischen dem Charakter des Menschen" und seinem Außerlichen". Johann Caspar Lavater schrieb in seinem Buch "Von der Physiognomik": Es empört sich in der Tat der menschliche Verstand gegen einen Menschen, der behaupten könnte, daß Leibnitz oder Newton in dem Körper eines Stupiden, eines Menschen aus dem Tollhause, der große Metaphysiker oder Mathematiker hätte seyn können; daß der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im Kopfe eines Mohren, dessen Nase aufgedrückt, dessen Augen zum Kopfe heraus ragen, dessen Lippen, so aufgeworfen sie sind, kaum die Zähne bedecken, der allenthalben fleischicht und rund ist, die Planeten gewogen, und den Lichtstrahl gespaltet hätte."1 - So kauzig, ja diskriminierend, diese Äußerungen anmuten, so deutlich machen sie die verheißungsvolle Wirkung des sichtbaren Gesichts - bis heute.
Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eines jeglichen Bildes in unbegrenzter Zahl ist die ikonische Wirkung umso größer, da die meisten Bilder aus Zeiten stammen, wo ein Portrait ein Unikat war, eine Seltenheit, und dazu noch nicht immer überliefert - in Öl oder als Photographie.
Wir kennen unseren Shakespeare mit Bart, schütterem schulterlangem Haar, Ohrring. Wir kennen unseren Mozart mit Zopfperücke oder zerwühltem Haar und großáen Augen; Goethes markante große Nase und die hervorstehende Unterlippe, selbst als die Zähne weniger wurden; und wir kennen unseren Hesse mit dem kurzen weißen Haar, den eingefallenen Wangen und der runden Nickelbrille. Wenn wir uns aber einer frühen photographischen Aufnahme der Jahrhundertwende gegenübersehen, mit dunklem Haar und dichtem Vollbart, ist es dann immer noch Hesse? Der Autor des "Ulisses" unterscheidet sich von dem des "Steppenwolf" durch die Verlängerung des Gesichts mit vorschießendem Unterkiefer und bei gleicher Brillenform durch die deutlich stärkeren Gläser.
Der verheißungsvolle Bildspeicher berühmter Köpfe hat sich auch in der neuen medialen Bilderflut erhalten. Mahsberg beschwört dieses Reservoir der Geistesgeschichte und rettet sie durch die einfache, doch sehr suggestive Methode des Portraits in unsere Zeit herüber: durch die Köpfe der ?Dramatis Personae": Das ist der Mozart, das ist der Beethoven, das ist der Schubert.

II. Bei der Malerei

Aus dieser Ikonensammlung schöpft Mahsberg, nimmt sie zum Anlaß, beginnt mit diesen Bildern seine Arbeit - malt. Die Ahnengalerie der Ähnlichkeit entsteht zunächst im Kopf. Sie ist das kognitive Ergebnis eines Abgleichungsprozesses: Strukturen werden wie beim Lesen eines Wortes abgetastet, diese Strukturen sind Züge, Gesichtszüge. Aus Figuren werden Personen durch Kenntlichkeit. Mahsbergs Arbeit setzt bei der Bekanntheit an und schafft in verst”renden Formaten bis zur Kenntlichkeit verfremdete Portraits: In des Wortes eigentlicher lateinischer Bedeutung "protrahere" zieht er hervor, schafft Züge, die sich im Kopf des Betrachters zu Anhaltspunkten für Gesichter zusammensetzen lassen. Er nähert sich der Vorstellung von einem unverkennbaren Gesicht an. Anlaß genug für Malerei.
Mahsbergs Malerei wühlt in der Farbe, verdichtet und spitzt pastos bis zur schroffen Kraterlandschaft zu: Seine Bilder sind vielfarbig, er transformiert die im Schwarzweißdruck alter Lexika bereits verfremdete Abbildung zu einem neuen Ausdruck: expressiv, ja zum Teil expressionistisch. Die Farbe ist zugleich Oberfläche, ein Gebirge, hinter dem sich ein Kopf zu verbergen scheint.
Mahsbergs Malerei ist von der Unermüdlichkeit des Weitermalens geprägt. Sind die geschnittenen Holzstücke zu einer Fläche zusammengefügt und mit Nessel kaschiert, dann entstehen ohne Grundierung Serien des immer Neuen. Der Prozeß, der nach der "Bildfindung" im Lexikon beginnt, ist bei den Hunderten von Bildern im Format 7,5 x 7,5 cm ein Durchwühlen engsten Raumes, manchmal auch nur ein Ertasten von Formen, dann wieder ein grobes Verwischen mit Pinsel oder Spachtel. Das Portrait im Lexikon und dann im Kopf des Künstlers wirkt wie in unerreichbare Ferne gerückt, manchmal kenntlich, manchmal jedoch auch zu Unkenntlichkeit zermalmt.
Und Ferne ist ein wichtiger Ästhetischer Gesichtspunkt in Mahsbergs Arbeiten. Die Vorstellung von Zeitlichkeit, die in einem Portrait mitschwingt, greift der Maler bewußt auf. Ein historisches Bewußtsein wird deutlich, für das Mahsberg immer wieder einen neuen Werkstoff mit der Ölfarbe kombiniert: Silikon. Viele größerformatige Gemälde sind mit einer 5 bis 10 cm dicken Silikonschicht überzogen. Unter dieser milchigen Fläche werden die Gesichtszüge in Ölfarbe getrübt: Ähnlichkeit ist nun nicht mehr in der Setzung des pastosen Reliefs entdeckbar, sondern wird zur Ahnung verschleiert. Dies ist besonders bei den großen Formaten von 75 x 75 cm mit der Notwendigkeit des Betrachters verbunden, zum Bild eine große Entfernung einzunehmen, damit die auseinanderstrebenden Einzelformen sich wieder zu einem Gesicht zusammenfügen. Dabei wird Ölmalerei zur schieren Untermalung. Wie die Imprimatur der mittelalterlichen Tafelmalerei Italiens, in der die menschliche Haut auf einem Grund von Grüner Erde in Lasuren aus Weiß und Zinnober aufgebaut wurde, schimmert die darunterliegende Farbschicht durch die Silikonschicht hindurch. Diese reduziert den Anteil des Sichtbaren auf eine schemenhafte Struktur, die beispielsweise die femininen Züge des Novalis-Stiches auf die dunklen Flecke der großen weit auseinanderstehenden Augen und des fleischigen Mundes reduziert, flankiert von den Schattenandeutungen der hervorstehenden Wangenknochen.
Immer entstehen Leerstellen, hervorgerufen durch die Reduktion des Pinselduktus' oder den Schleier des Silikons. Sie werden vom Betrachter - hat er nun die Idee des Portraitieren im Kopf - ergänzt zu jener Vertrautheit und Nähe, die man zu dem einen oder anderen Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler oder Maler zu haben scheint. Aus der Zahl der entstandenen und behände entstehenden kleinen Quadrate könnte man beinahe etwas wie eine "peinture automatique" lesen, sich selbst malende Bilder, die dem Künstler als eigentliches Ergebnis vor Augen stehen: Nicht das Portrait ist das Ziel, sondern alleiniges Ziel des Malers Mahsberg ist Malerei.

III. Nach der Malerei

Das Portrait im Museum ist eine vertraute Gewohnheit. Im Leopold-Hoesch-Museum Düren ist es ein Bestand zumeist Klassischer Moderne, der mit einem nicht identifizierbaren "Mädchen mit roter Schleife" von Jawlensky, einem Männerportrait von Davringhausen ebenso aufwartet wie mit den konkreten Portraits von Otto Dix, seinem Vater, seiner Mutter oder von Emil Nolde.
Mahsbergs Portraitmalerei besiedelt das Museum. Die eigenständigen Formate und die Fülle des Gemalten erfordern dies: Keine Reihen, sondern Flächen umschreiben die verschiedenen Quadrate: übereinander und nebeneinander füllen sie die Wände des Raumes.
Doch Fülle manifestiert sich nicht nur in einer kulminierten Hängung. Fülle greift um sich, ergreift Besitz von der Umgebung. Hier ist es die Sammlung des Museums, die plötzlich von den kleinen Quadraten durchdrungen wird. Sie treten in einen Dialog zu den "Klassikern" und zeigen selbst Klassiker  und sind, was sie sind: Malerei.

Joachim Geil

 

1 Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik, Frankfurt/M.  Leipzig 1991 (erstmals 1772), S. 14